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Bildgeschichten: Paris, rue Victor Cousin (2010)

Manche Fotos die wir machen, haben einen besonderen Wert. Aufgrund der Umstände in denen sie entstanden sind, oder da wir eine Geschichte mit ihnen verbinden, die sich in ihnen gebündelt wiederfindet. Diese Bilder sind wertvoll.  Das hier ausgewählte Foto gehört für mich persönlich in diese Kategorie.  Als ich es 2010 aufnahm, hatte ich kurz zuvor begonnen in Paris zu leben und zu studieren. Bei meinen Streifzügen durch die Stadt, hatte ich den Eindruck mich wie in einem magischen Kosmos kleiner Szenen zu bewegen, die in solch einer Selbstverständlichkeit nur in Großstädten auf der Straße stattfinden können - im geschützten Rahmen der Anonymität der Massen. 

Dort besuchte ich auch die ersten Ausstellungen der großen (Pariser) Straßenfotografen. Zuvor war Fotografie in meinen Augen keine ernst zu nehmende Kunstform - zu wenig hatte ich mich damit auseinandergesetzt. Nun sah ich Fotos, aufgenommen im Alltag. Kleine Momente auf den Straßen festgehalten in einer zeitlosen Form, schwarz-weiß, ausgestattet mit einer Tiefe, die eine enorme Sogwirkung auf mich ausübte. So begann auch ich offenen Auges durch die Stadt zu gehen. An meiner Seite, eine alte klapprige Minolta-Kamera, deren Filmtransport nicht so recht funktionierte, mit einem Objektiv, dessen Bajonett zu viel Spiel hatte. So kam ich an der Szene mit der Person vorbei, die die Streikplakate des Vortags mit Wasserdruck von den Wänden strahlte. Direkt gegenüber des Eingangs meiner Universität, der Sorbonne. Das Licht stand perfekt und zeichnete malerische Schatten. Ich machte ein Foto und ging weiter. Wochen später hatte ich diese Szene längst vergessen. Ich holte die entwickelten Filme mit den Abzügen aus dem alten Fotoladen am Place Saint Michelle ab und traf mich auf einen Kaffee mit einer Freundin. Gleich wollte ich sehen, was herausgekommen ist. Nachdem ich die Abzüge zweier Filme durchgeschaut hatte, war ich enttäuscht. Zu viele unscharfe, verwackelte und nichtssagende Aufnahmen, zu wenig interessantes. Kaum etwas. Nachdem ich bereits mehrere dieser Momente mit frisch entwickelten Fotos erlebt hatte, zweifelte ich daran, meine Zeit und mein Geld (mit der Zeit summierten sich die Kosten für die schwarz-weiß Filme und Entwicklung) weiter in diesem Maße zu investieren. Einen entwickelten Film aus dem Fotogeschäft zu holen, war für mich die direkte Fortsetzung der Weihnachtsfaszination, der ich als Kind erlegen war. Was war unter dem Geschenkpapier versteckt - eine unbändige Vorfreude das Geheimnis zu lüften. Wären in meiner Kindheit jedoch Geschenk für Geschenk kratzige Stricksocken verpackt gewesen, so hätte ich wohl bald meine Freude am auspacken verloren. An ebendiesem Punkt war ich mit den Fotos angekommen als ich mit meiner Freundin im Café saß. Ich zweifelte nicht nur an diesem Fotopaket, sondern generell daran, ob ich mich weiter mit der Fotografie beschäftigen sollte. Als eines der letzten Bilder zog ich dann "Paris, rue Victor Cousin" aus dem Kuvert. Da war es! Das wohl erste richtige Foto, das ich je gemacht habe. Alles davor waren Schnappschüsse - manche ganz passabel, aber keines so, wie ich mir ein gutes, ein echtes Foto vorstellte. Ich sah in diesem Bild so vieles, das mir bei anderen Fotografen gefiel. Ein Bild, dass ohne großes Nachdenken aus der Situation entstanden ist und durch eine derartige Komposition strukturiert ist. Auch inhaltlich fand ich bald verschiedene Ebenen, die mich Ansprachen. Dieses Foto sagte zu mir: mach weiter. Da wo ich herkomme, gibt es noch mehr. Ich folgte diesem Ruf und freue mich noch heute darüber.  

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